80 70 30: Österreich als geheimer Verbündeter, Brückenbauer oder Trittbrettfahrer?

Wien (PK) – Sicherheitspolitik war für Österreich seit der
Wiedererlangung seiner
Souveränität 1955 stets mehr als eine Frage militärischer Stärke. Sie
spiegelte den Versuch wider, inmitten wechselnder internationaler
Rahmenbedingungen eine stabile Rolle zu finden – als souveräner
Staat, als verlässlicher Partner in multilateralen Strukturen und als
Bewahrer einer besonderen politischen Identität. Dabei verschoben
sich die Schwerpunkte je nach Epoche: vom Aufbau der
Landesverteidigung nach dem Staatsvertrag über die
sicherheitspolitische Positionierung im Kalten Krieg bis hin zur
Neuorientierung nach 1989 und den aktuellen Herausforderungen einer
instabiler werdenden Weltordnung. Der folgende Überblick zeichnet
diese Entwicklungslinien nach und zeigt, wie Österreichs
Sicherheitspolitik in den vergangenen sieben Jahrzehnten geprägt,
hinterfragt und immer wieder neu definiert wurde.

Sicherheitspolitische Zeitenwende

Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ab Februar 2022
rückte die militärische Landesverteidigung schlagartig ins Zentrum
des politischen Interesses. In ganz Europa und darüber hinaus war von
einem „gravierenden Umbruch“, einer „Zäsur in der europäischen
Sicherheitsarchitektur“ und einer „Zeitenwende“ die Rede. Für etwa
drei Jahrzehnte seit dem Ende des Kalten Krieges schien sich
Sicherheitspolitik auf „polizeiliche“ Aufgaben etwa zur
Terrorismusabwehr oder auf Friedensmissionen zur Stabilisierung von
Krisengebieten zu beschränken. Nun ist der konventionelle Krieg nach
Europa zurückgekehrt, und die vielzitierte regelbasierte Weltordnung
verliert an Boden, zugunsten einer überwunden geglaubten Interessens-
und Großraumpolitik.

Auch die aktuelle Österreichische Sicherheitsstrategie , die nach
Ausbruch des Krieges in der Ukraine erneuert wurde, konstatiert eine
„fundamental veränderte“ nationale und internationale
Sicherheitslage. Für Österreich stellt sich die Frage der
Verteidigungsfähigkeit jedoch in besonderer Weise, da das Land
aufgrund seiner Neutralität eine Sonderstellung einnimmt. Eine
effektive militärische Landesverteidigung im Alleingang erscheint
illusorisch, ein Beitritt zu einem Militärbündnis wiederum würde
einen Bruch mit einer zentralen Tradition bedeuten. Eng damit
verknüpft ist auch das österreichische Selbstverständnis, verkörpert
durch das am 26. Oktober 1955 beschlossene Neutralitätsgesetz, das
Historiker Oliver Rathkolb als „Magna Charta“ der Zweiten Republik
bezeichnet.

Dieses Spannungsfeld begleitet Österreich jedoch nicht erst seit
dem Krieg in der Ukraine, sondern beschäftigt Politik und Fachwelt
bereits seit der Unterzeichnung des Staatsvertrags und der
Wiedererlangung der Souveränität im Jahr 1955. Seither war die
österreichische Sicherheitspolitik mehrfach gezwungen, sich an
tiefgreifend veränderte äußere Rahmenbedingungen wie auch interne
politische Konstellationen anzupassen. Dabei wandelte sich nicht nur
die institutionelle Ausrichtung, sondern auch das Verständnis von
Sicherheit selbst – von einer rein militärischen Sichtweise hin zu
einem umfassenden Begriff, der militärische, innere, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Dimensionen einschließt.

Das „zu spät gekommene“ Bundesheer

Politikwissenschaftler Franz Eder zeichnet diesen Wandel in der
Zweiten Republik in seinem Beitrag über Sicherheitspolitik im
„Handbuch Außenpolitik Österreichs“ nach, weg von einem rein
militärisch gedachten Sicherheitsbegriff hin zu einem umfassenderen
Verständnis von Bedrohungen, deren Ursachen sowohl außerhalb als auch
innerhalb eines Staates zu finden sind. Die strikte Trennung zwischen
äußerer und innerer Sicherheit verlor im Laufe der Jahrzehnte
zunehmend an Bedeutung.

Zunächst entwickelten sich beide Sphären jedoch unabhängig und
zeitlich versetzt voneinander. Der Aufbau der österreichischen
Polizei inklusive des Staatspolizeilichen Dienstes (STAPO) als
nachrichtendienstlicher Organisation erfolgte unmittelbar nach
Kriegsende 1945. Diese hatten die Aufgabe, die öffentliche Ordnung
des jungen Staates aufrechtzuerhalten, was in den 1950er-Jahren vor
allem bedeutete, kommunistische Entwicklungen im Auge zu behalten.
Als kleines Land mit begrenzten nachrichtendienstlichen Fähigkeiten
war Österreich ein „Nettoempfänger“ von nachrichtendienstlichen
Fähigkeiten und auf internationalen Austausch angewiesen, wie Eder
schreibt. Im Bereich der inneren Sicherheit führte dies schon früh zu
einem Internationalisierungsschub, der in der äußeren und
militärischen Sicherheitspolitik erst nach dem Ende des Kalten
Krieges schrittweise einsetzte.

Da das Verteidigungsressort hingegen erst 1955 und damit zehn
Jahre nach allen anderen Ministerien wiedergegründet wurde, stellte
das Bundesheer laut Eder generell einen „zu spät gekommenen“
politischen Akteur dar, dem im „bürokratischen Wettstreit“ nur wenige
Ressourcen überlassen wurden. Darüber herrschte nicht nur innerhalb
der Sozialdemokratie Einigkeit, die wegen der Rolle des Bundesheers
im österreichischen Bürgerkrieg ein besonders distanziertes
Verhältnis zum Militär pflegte. Der SPÖ-Abgeordnete Peter Strasser
brachte diese Haltung bei einer Rede im Nationalrat am 18. Juli 1956
auf den Punkt: „Wir Sozialisten haben eben überall an der Aufstellung
einer Wehrmacht an und für sich wenig Freude und haben uns nur aus
staatspolitischen Notwendigkeiten dazu bekannt“. Aber auch etwa die
sozialpartnerschaftlichen Interessensverbände wollten im Rahmen des
wirtschaftlichen Wiederaufbaus der Landesverteidigung lediglich die
notwendigen Mittel zur Verfügung stellen, um den „Minimalforderungen
der Neutralität“ zu entsprechen, so Eder. Diese Rahmenbedingungen
sollten sich jahrzehntelang nicht grundlegend ändern und erst mit dem
Beginn des aktuellen Krieges in der Ukraine vollzog sich ein
parteiübergreifender Schwenk in Richtung einer ausreichenden
budgetären Ausstattung des Bundesheeres.

Neutralität als Pfeiler der österreichischen Eigenstaatlichkeit
und Identität

Das am 26. Oktober 1955 beschlossene Neutralitätsgesetz stellte
neben der Ressourcenknappheit und Österreichs geografischer Lage am
Schnittpunkt des Ost-West-Konflikts den bestimmenden Faktor der
österreichischen Sicherheitspolitik dar. Das Bekenntnis zur
Neutralität ist bis heute breiter politischer Konsens, ihre Auslegung
jedoch spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges Gegenstand
kontroverser Debatten. Nach Schweizer Vorbild verpflichtete sich
Österreich, keinem militärischen Bündnis beizutreten oder im
Kriegsfall Stellung zu beziehen. Im Gegensatz zur Schweiz trat
Österreich aber bereits im Dezember 1955 den Vereinten Nationen bei
und erklärte sich 1960 erstmals bereit, mit einem kleinen
Sanitätskontingent des

Bundesheeres an einem internationalen Einsatz im Kongo
teilzunehmen.

In den ersten 15 Jahren ihrer Sicherheitspolitik war die junge
Republik darauf bedacht, ihre staatliche Existenz dahingehend
abzusichern, dass man keiner Seite in der Systemkonfrontation zu
offensichtlich nahestand. Die Neutralität wurde von einer
völkerrechtlichen Zwischen- und Kompromisslösung mit den
Besatzungsmächten zu einem „Pfeiler der österreichischen Identität“,
der mit sozialem Aufschwung, Sicherheit und Frieden gleichgesetzt
wurde, wie Historiker Oliver Rathkolb in seinem Buch „Die paradoxe
Republik“ beschreibt.

In den 1950er-Jahren war der Neutralitätsbegriff noch ideologisch
prokommunistisch gefärbt, da die Sowjetunion und kommunistische
Parteien in Europa das atomare Übergewicht des Westens durch die
Forderung nach neutralen Zonen zu kompensieren versuchten. Zudem
hatte die österreichische Neutralität für die Sowjetunion den
Vorteil, dass damit ein „Anschluss“ an die Bundesrepublik Deutschland
– sei es auch nur ein wirtschaftlicher – vermieden und der
Sowjetunion indirekt Interventionsmöglichkeiten eingeräumt werden
konnten.

Gleichzeitig stand die ökonomische, politische und kulturelle
Westorientierung Österreichs bereits 1945 außer Frage. Der
Antikommunismus insbesondere in Abgrenzung zu den kommunistischen
Nachbarstaaten stellte nach dem Zweiten Weltkrieg ein wesentliches
Element zur Stärkung des Glaubens an die Kleinstaatlichkeit dar.
Zudem konnte die angeblich ständige kommunistische Bedrohung
geschickt als Argument gegenüber den USA ausgespielt werden, um ein
Maximum an finanzieller und politischer Unterstützung zu erzielen. So
erhielt Österreich eine der höchsten Pro-Kopf-Quoten an Mashall-Plan-
Hilfe, wie Rathkolb festhält.

War die Errichtung eines Heeres der Provisorischen
Staatsregierung Renner 1945 noch untersagt worden, stellte die
Remilitarisierung Österreichs für die Besatzungsmacht USA seit 1949
einen zentralen Bestandteil des Staatsvertragsabschlusses dar. Da man
eine kommunistische Machtergreifung von innen befürchtete, wurde im
Rahmen der sogenannten B-Gendarmerie sukzessive der Kern einer
prowestlichen Truppe aufgebaut. Die Neutralität Österreichs war also
laut Rathkolb von Beginn an ein mehrdeutiger und vielschichtiger
Verhandlungskompromiss, und keineswegs eine von allen Akteuren klar
definierte Lösung.

Das eigentümliche Paradox österreichischer Verteidigungspolitik

Der Konsens einer sparsamen Landesverteidigung dominierte auch
die die sogenannte Ära Kreisky ab 1970. Prägend für diese Phase war
das Konzept der „Raum- bzw. Territorialverteidigung“, der sogenannten
„Spannocchi-Doktrin“ – benannt nach dem österreichischen General Emil
Spannocchi. Deren Hintergrund waren Hinweise, wonach der Warschauer
Pakt im Kriegsfall eine Spaltung der NATO-Truppen in Nord und Süd
durch einen Vormarsch durch Österreich anstreben könnte. In diesem
Fall wäre die Verteidigung Österreichs nicht an der Staatsgrenze
geplant gewesen, sondern die Konzentration auf Schlüsselzonen im
Land. So wollte man das Eindringen feindlicher Truppen verzögern, der
NATO mehr Zeit für Gegenmaßnahmen verschaffen und somit einen Angriff
auf Österreich strategisch möglichst unattraktiv machen.

Diese Strategie macht das „eigentümliche Paradox“
österreichischer Sicherheitspolitik deutlich sichtbar, so Rathkolb.
Auch wenn Österreich in dieser Phase des Kalten Kriegs sehr bemüht um
Äquidistanz zu allen Mächten war, wurde die Bedrohung insgeheim doch
als aus dem Osten kommend gesehen, und die Wahrung der militärischen
Sicherheit immer im Zusammenspiel mit den westlichen Mächten
verstanden. Rathkolb identifiziert Österreich in diesem Zusammenhang
als einen „geheimen Verbündeten“ der NATO.

Die Spannocchi-Doktrin ermöglichte es zudem, die notwendigen
Mittel für eine aktive Neutralitäts- und Außenpolitik zur Verfügung
zu haben. Die Sicherheit Österreichs, so das Argument der SPÖ-
Alleinregierung unter Kreisky, sei nicht durch eine Beteiligung am
Wettrüsten zu gewährleisten, sondern durch den internationalen
Auftritt als Vermittler und engagierter Akteur auf der diplomatischen
Bühne. Entscheidend sei „nicht nur militärische Neutralität im
Kriegsfall, sondern eine aktive Außenpolitik im Dienste der
Friedenserhaltung“, fasste SPÖ-Abgeordneter Karl Czernetz diese
Haltung in einer Plenardebatte 1976 zusammen. Rathkolb spricht vom
„Goldenen Zeitalter“ der österreichischen Neutralitätspolitik, in der
Österreich als Brückenbauer zwischen Ost und West aber auch als
Vermittler im Nahen Osten hohes internationales Ansehen genoss.

Diese Politik wurde auch von der breiten Bevölkerung unterstützt,
die eine sparsame Landesverteidigung präferierte. Ganz im Gegensatz
zur Schweiz, setzte man nicht auf gut ausgestattete und hoch
gerüstete Streitkräfte, sondern auf die Wahrung der territorialen
Integrität mit einem Minimum an Defensivkräften. Von außen hingegen
führte diese „sparsame“ Verteidigungspolitik zum Vorwurf, Österreich
sei ein sicherheitspolitischer „Trittbrettfahrer“, der sich im
Ernstfall auf den Schutzschirm der NATO verlasse. Ein Vorwurf, der
mit Ende des Kalten Krieges immer häufiger auch im innenpolitischen
Diskurs vorgebracht wurde.

Ende des Kalten Krieges: Sinnkrise und Avocado-Doktrin

Das Ende des Ost-West-Konflikts sowie der Zerfall des Warschauer
Pakts und der Sowjetunion veränderten Anfang der 1990er die
geopolitischen Rahmenbedingungen gravierend und läuteten eine neue
Phase der österreichischen Sicherheitspolitik ein, die Eder unter dem
Motto „Neuorientierung“ zusammenfasst. Eine Dokumentation des ORF aus
dem Jahr 1993 mit dem Titel „Die Zerreißprobe“ fängt die Stimmung
innerhalb des Heeres zu jener Zeit ein und berichtet von Resignation
und Verunsicherung angesichts vieler ungelöster Fragen. Der damalige
Bundessprecher der Grünen, Peter Pilz, spricht darin gar von einer
„Sinn- und Existenzkrise“ des Bundesheeres, da ihm „über Nacht“ der
Feind abhandengekommen sei. Thematisiert wurden ein stagnierendes
Militärbudget, der Personalmangel aufgrund des seit Kurzem
erleichterten Zugangs zum Zivildienst, die Möglichkeit eines
Berufsheeres anstatt der Wehrpflicht sowie – natürlich – die Frage
der Zeitgemäßheit der Neutralität. Denn mit dem Ende des Ost-West-
Konflikts fiel auch der Bezugsrahmen weg, der für ihre Entstehung
konstitutiv war.

Die Neutralität wurde jedoch nicht beendet, sondern gemäß der
sogenannten „Avocado-Doktrin“ (nach dem österreichischen Diplomaten
Franz Cede) auf ihren harten Kern – Bündnis- und Stützpunktverzicht –
reduziert. Bereits anlässlich des Zweiten Golfkriegs 1990/1991
ordnete sich Österreich zum ersten Mal in seiner Geschichte den
Entscheidungen einer internationalen Organisation unter und
gestattete den Transport von Kriegsmaterial für Polizeiaktionen der
UNO, erklärt Historiker Wolfgang Müller in seinem Beitrag für den
Sammelband „Österreichs Neutralität“. Das Argument war nun, dass ein
neutraler Staat sich seinen internationalen Verpflichtungen nicht
entziehen konnte. Diese Entwicklung verstärkte sich mit der
schrittweisen Integration in europäische und transatlantische
Institutionen. Eine besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang haben
auch die Zerfallskriege in Jugoslawien an Österreichs Grenze und ihre
Folgen. Konsequenterweise beteiligte sich das Bundesheer beginnend
mit 1996 an der Friedenssicherung in Bosnien und Herzegowina und dann
in weiterer Folge seit 1999 im Kosovo, wie Johann Frank in seinem
Beitrag über das Bundesheer im „Handbuch Außenpolitik Österreichs“
ausführt.

Unter Verweis auf die „irische Klausel“ beteiligte sich
Österreich nach dem EU-Beitritt 1995 an der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) und deutete damit die Neutralität von einem
defensiven in ein solidarisches Verständnis um, wie Eder ausführt. Er
schreibt nunmehr von einem „post-neutralen Staat“, der de jure immer
noch neutral war, dessen militärische Sicherheit aber vollends in die
europäischen Entwicklungen eingebettet wurde. Mit der Teilnahme
Österreichs am NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP)
wurde auch die Annäherung an transatlantische Strukturen forciert.
Ein Beitritt zur NATO selbst wurde vor allem von der FPÖ unter Jörg
Haider aber auch von der ÖVP vorangetrieben, wie etwa die
Plenardebatte zu einem Dringlichen Antrag der Freiheitlichen auf eine
raschen NATO-Beitritt illustriert. Der damalige Vizepräsident des
Europäischen Parlaments, Othmar Karas, sprach in den Medien gar von
einer „Neutralitätslüge“, mit der aufgeräumt werden müsse. Doch die
Koalition beider Parteien ab dem Jahr 2000 schob diese Frage vorerst
an eine Expertenkommission ab, wie Rathkolb festhält. In der
Bevölkerung blieb die Neutralität verschiedenen Studien zufolge
weiterhin hoch im Kurs.

Vom Bedeutungsverlust zur Renaissance der militärischen
Landesverteidigung

Etwa ab der Bundespräsidentschaftswahl 2004 ortet
Politikwissenschaftler Martin Senn eine Stagnation in der
Neutralitätsdebatte. Nach dem Wegfall des Systemfeindes geriet die
territoriale Landesverteidigung zunehmend in den Hintergrund. Das
Bundesheer fand neue Aufgabengebiete im Assistenzeinsatz an der
Staatsgrenze und in internationalen Einsätzen, etwa bei der NATO-
geführten Friedensmission in Bosnien und Herzegowina.

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verschob sich
der sicherheitspolitische Fokus vom 1961 verabschiedeten Konzept der
Umfassenden Landesverteidigung hin zu einem System der „umfassenden
Sicherheitsvorsorge“, wie Eder ausführt. Aufgrund neuer Risiken und
Bedrohungen sollten potenzielle Gefahren schon im Vorfeld proaktiv
verhindert oder bearbeitet werden, anstatt sich im Nachhinein mit den
Konsequenzen dieser Entwicklungen auseinandersetzen zu müssen. Die
Sicherheitsdoktrin von 2001 unterstrich die zunehmende Verschmelzung
von äußerer und innerer Sicherheit. Das Innenministerium konnte sich
sukzessive immer stärker als sicherheitspolitischer Akteur auf Kosten
des Bundesheeres etablieren, so Eder. Konventionelle militärische
Angriffe auf Österreich wurden explizit nicht mehr als
wahrscheinliche Bedrohungsszenarien definiert.

Auch die allgemeine Wehrpflicht wurde nun immer öfter zur
Disposition gestellt. Wiens damaliger Bürgermeister Michael Häupl gab
den Anstoß zu einer Debatte über ihr Fortbestehen, die 2013
schließlich in der ersten und einzigen bundesweiten Volksbefragung
der Zweiten Republik kulminierte. Während ÖVP und FPÖ mit der
Bedeutung der Wehrpflicht für Katastrophenschutz, Neutralität und (
über den Zivildienst) für das Sozialsystem argumentierten, sah die
SPÖ ein „Massenheer“ nicht geeignet, um die neuen
verteidigungspolitischen Herausforderungen wie Terrorismus und
Internetkriminalität zu bewältigen. Die Grünen begründeten ihre
Ablehnung der Wehrpflicht mit der aus ihrer Sicht fehlenden
Bedrohungslage. Bei einer Beteiligung von 52,4 % stimmten schließlich
59,7 % für die Beibehaltung, was auch ein parlamentarisches Nachspiel
in Form eines FPÖ-Misstrauensantrags gegen SPÖ-Verteidigungsminister
Norbert Darabos hatte.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine erledigten sich
schließlich etwaige Diskussionen über den Sinn und Stellenwert der
militärischen Landesverteidigung. Der konventionelle Krieg mitten in
Europa führte nicht nur zu ihrer Renaissance, sondern fachte auch die
Neutralitätsdebatte neu an. Während der Fortbestand der Neutralität
nach wie vor breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens ist,
bleibt ihre konkrete Auslegung ein umkämpftes Feld – zwischen dem
Beharren auf der „Magna Charta“ der Zweiten Republik und der
Notwendigkeit, auf eine veränderte internationale Sicherheitslage zu
reagieren.

Einen Wendepunkt markierte der Krieg auch hinsichtlich budgetärer
Fragen: Erstmals seit Jahrzehnten herrscht über die Parteigrenzen
hinweg Einigkeit darüber, dass das Bundesheer deutlich besser
ausgestattet werden muss. Die jahrzehntelang dominierende Linie einer
„sparsam“ gehaltenen Verteidigung wich einem überparteilichen
Konsens, die Verteidigungsfähigkeit Österreichs substanziell zu
stärken – auch um die Neutralität glaubwürdig abzusichern. So bewegt
sich Österreichs Sicherheitspolitik auch nach 70 Jahren weiter in
jenem Spannungsfeld, das sie seit 1955 prägt: zwischen Tradition und
Anpassung, zwischen Eigenständigkeit und internationaler
Verflechtung, zwischen dem Anspruch auf Neutralität und der Realität
machtorientierter Geopolitik. (Schluss) wit

HINWEISE: Fachdossiers , etwa zur Mitwirkung des Parlaments in
der Sicherheitspolitik oder zur Neutralität , finden Sie im Webportal
des Parlaments, ebenso wie Podcasts zu diesen Themen und
Stenographische Protokolle zu allen Sitzungen von Nationalrat und
Bundesrat.

Die Beiträge bzw. Bücher von Franz Eder, Oliver Rathkolb,
Wolfgang Müller, Johann Frank und Martin Senn sowie andere Werke zur
österreichischen Sicherheitspolitik finden Sie in der
Parlamentsbibliothek .

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70 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und vor 30 Jahren
trat Österreich der EU bei. Mehr Informationen zum Jahresschwerpunkt
2025 finden Sie unter www.parlament.gv.at/kriegsende-staatsvertrag-eu
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